Einblicke 02/2018

«Ich mache das Beste aus jeder Situation.»

Portrait

Marcel Dahinden

Mit dieser Einstellung geht Marcel Dahinden (38) durchs Leben. Seit Geburt sehbehindert, hat er eine schwierige Jugend, Entbehrungen und körperliche Schmerzen hinter sich. Eine gesunde Lebenseinstellung hilft ihm, Hürden zu umschiffen und sich ein Stück ‹Normalität› zu erkämpfen.

Bis zum Kindergartenalter kommt Marcel mit seiner angeborenen Augenkrankheit ‹Lebersche Kongenitale Amaurose› (siehe Fachartikel) zurecht. Doch als die Schulzeit beginnt, bereitet ihm die damit verbundene Nachtblindheit frühmorgens auf dem Schulweg erste Probleme. Und abends auf dem Spielplatz stösst er sich an Spielgeräten, die er bei heraufziehender Dunkelheit nicht sieht. In der Schule sitzt Marcel in der vordersten Reihe, um besser an die Wandtafel sehen zu können.

Schwierige Jugendzeit

Nach der Schulzeit möchte er am liebsten eine Lehre als Motorradmechaniker absolvieren. Grosse Maschinen wie Harleys und Hondas faszinieren ihn. Doch er wird aufgrund seiner Sehbehinderung nicht zugelassen. Was bleibt ist eine Velomechaniker-Lehre. So interessant die Arbeit ist, die schwierigen Bedingungen im Lehrbetrieb mit Mobbing am Arbeitsplatz und einem schlechten Arbeitsklima verdunkeln diesen Lebensabschnitt. Mit seiner Sehbehinderung und den Themen der Pubertät alleine gelassen, findet Marcel Zuflucht unter Gleichaltrigen, die nicht den besten Einfluss auf ihn ausüben. Alkohol und leichte Drogen mischen sich in den Cocktail der Überforderung mit der ganzen Lebenssituation. Rückblickend meint Marcel: «Irgendwie musste ich da hindurch. Es galt, zuerst diese Lehre abzuschliessen, bevor ich etwas Neues beginnen kann».
 

Die Einstellung ändern

Nach der Lehre findet der Velomechaniker vorerst nicht aus seinem Tief heraus. Depressionen machen ihm zu schaffen, körperlich reagiert er mit Reizdarm und Schuppenflechten. Zweieinhalb Jahre ist er ohne Arbeit. 2003 reagieren auch die Augen: seine Sehkraft hat sich massiv verschlechtert. Ein Kollege empfiehlt ihm, eine Naturheilpraktikerin aufzusuchen. Eine glückliche Wende. Zum ersten Mal ist da ein Mensch, der ihn versteht, der ihm zuhört und der weiss, wie man auch mit schwierigen Lebenssituationen umgeht. Die Therapeutin vermittelt ihm, wie er seine Lebenseinstellung ändern und aus dem ‹halbleeren Glas› ein ‹halbvolles Glas› machen kann.

«Ich visualisiere eine Situation, die ich mir wünsche.»

Geschützte Arbeitsplätze

2006 schickt ihn die IV nach Basel zu einer beruflichen Abklärung zur heutigen SIBU, die zur Sehbehindertenhilfe Basel gehört. Er absolviert während eines Semesters eine Grundschulung in Vollzeit. Obschon er viel lernt, reicht seine Leistungsfähigkeit (psychisch wie physisch) nicht aus, um eine der Berufschancen ‹Medizinische Massage› oder ‹Kaufmännische Lehre› zu ergreifen. Arbeitsplätze im geschützten Bereich sind das, was sich mit einer verminderten Leistungsfähigkeit anbietet. Im Frühling 2007 beginnt er, in einer Korbflechterei zu arbeiten. Die Arbeit gefällt ihm gut, doch eine Reihe von Gründen zwingen ihn nach anderthalb Jahren, damit aufzuhören. Danach arbeitet der Innerschweizer für sieben Jahre in einer Glaswerkstatt, wo er mit einem Sandstrahler Glaswaren dekoriert. Von dieser Arbeit, die ihm ebenso gefällt, erleidet er aber eine Verspannung der Nackenmuskulatur, die chronisch geworden ist. Sie löst Kopfschmerzen aus, und die Kopfschmerzen ihrerseits zementieren die Verhärtung im Nacken-Schulter-Bereich.
 

Körperliches Gleichgewicht wiederherstellen

Mit einem Körper der streikt, kommt Marcel Dahinden nicht weiter. Deshalb muss er dort ansetzen. Mit traditioneller chinesischer Medizin (TCM), Cranio-Sakral-Behandlungen und Physiotherapie arbeitet er gemeinsam mit seinen Therapeuten schon seit längerem am Wiederherstellen des körperlichen Gleichgewichtes. Die Muskulatur im Nacken ist besser geworden; sein Schmerzmittel-Verbrauch ist von früher 15 Tabletten täglich auf 3–5 Stück gesunken. Es gibt sogar fast schmerzfreie Tage, an denen er auf die Einnahme von Schmerztabletten verzichtet. Und auch dem Suchtmittelproblem, das er in der Pubertät kannte, ist er längst entwachsen. Seit dreieinhalb Jahren ist der 38-jährige Zuger jetzt in Basel. Zusammen mit seiner Freundin baut er sich hier eine neue Basis auf. Eine Tätigkeit bei der Drogenberatung könnte er sich vorstellen. Und er überlegt sich, einen Kurs als Selbsthilfe-Gruppenleiter zu absolvieren. Im Alltag kommt er einigermassen gut zurecht. Hilfsmittel sind sein Smartphone, das Zoomtext – ein Vergrösserungsprogramm auf dem Computer – sowie für das Kochen eine Küchenwaage mit grossem Display. Wenn immer er ein Alltagsproblem hat – sei es im Haushalt oder mit dem Computer – weiss er, dass er sich an die Spezialisten bei der Sehbehindertenhilfe wenden kann.

Sicher unterwegs sein bedeutet ein Stück Unabhängigkeit

In der neuen Umgebung muss er wieder lernen, sich unterwegs mit dem weissen Stock die wichtigsten Wege zu erschliessen. Marcel Studer, der Mobilitätslehrer der Sehbehindertenhilfe, hat ihm durch Mobilitätstrainings erstmal die Sicherheit in Basel vermittelt und dass sich Marcel auch abends, wenn es dunkler wird, sicher fortbewegen kann. So ist er jetzt mit den Wegen im Zolli, in den Langen Erlen, am Aeschenplatz sowie zusätzlichen Routen vertraut. Das Fortbewegen in der Stadt ist das eine. Aber der Wahlbasler sucht auch nach Möglichkeiten für eine sinnvolle Freizeitgestaltung. Er möchte in der Natur biwakieren, muss sich dazu aber in einem Gebiet gut auskennen. «Ein grosses Glück, dass mein Mobilitätslehrer selber ein Abenteurer ist und auch gerne mal in der Natur biwakiert. Ich fühle mich von ihm nicht nur gut begleitet was die Mobilität angeht, er gibt mir auch Tipps, die über das reine Orientierungstraining hinausgehen – ein Glücksfall!» So nehmen sich die zwei Marcels die Wasserfallen-Route vor. Es geht darum, dem sehbehinderten jungen Mann ein Gebiet begehbar zu machen, das pure Natur ist. Wenn er weiss, wo schwierige Klippen sind, welche Zonen er vermeiden sollte, wird es ihm möglich sein, dort zu wandern und eine sichere Stelle für das Biwakieren über Nacht zu finden. Dieses Abenteuer gibt ihm ein Stück Unabhängigkeit zurück, bringt Abwechslung in seinen Alltag und ist eine willkommene Erholung vom Stadtleben. Zudem stärkt es sein Selbstvertrauen.
 

Fuss fassen und Ziele setzen

Marcel ist zielstrebig und weiss, was er in nächster Zeit erreichen möchte. Seine chronischen Nackenschmerzen sollen sich auf einem guten Niveau stabilisieren oder gar verschwinden. Seit einiger Zeit versucht er, mit einem homöopathischen Grundmittel weitere Verbesserungen zu erzielen. Und er möchte auch beruflich wieder Fuss fassen und eine Aufgabe finden, die ihm Freude macht und einen finanziellen Zustupf beisteuert, sodass er und seine Freundin sich eine etwas grössere Wohnung mit drei Zimmern leisten können. Es ist Marcel Dahinden zu wünschen, dass sich seine Situation weiter stabilisiert, und dass er im schönen Basel die Perspektive findet, die er sich nach dem Wegzug aus dem ländlichen Zug erhofft hat.
 

Film: Biwakieren dank Mobilitätstraining

Hintergrund

Wenn die Sehkraft stetig schwindet

Bei Menschen mit der Augenerkrankung ‹Lebersche Kongenitale Amaurose› schwinden Kontraste wie auch die weite Sicht schleichend. Erst werden sie nachtblind, dann werden Kontraste schwieriger wahrnehmbar. Schliesslich folgt der Tunnelblick. Betroffene sehen fortwährend schlechter und können letztlich gar erblinden.

Die Lebersche Kongenitale Amaurose (LKA) ist eine vererbbare Erkrankung der Netzhaut beider Augen. Sie tritt schon bei Geburt auf und kann zur Blindheit führen. Nachtblindheit, eingeschränktes Gesichtsfeld und ungewöhnlich starke Blendung gehören typischerweise dazu. Es gibt bis heute noch keine medizinisch anerkannte Methode, die das Fortschreiten dieser Augenerkrankung verhindern oder die Krankheit heilen könnte.
 

Was bedeutet dies für Betroffene?

Die erste sichtbare Veränderung des Sehens tritt meist nachts ein. Marcel Dahinden hatte morgens, wenn es noch dunkel war, auf dem Schulweg erste visuelle Probleme. Später könnte die Nachtblindheit dazu führen, dass er nachts nur Lichter sieht. Zudem haben Menschen mit der LKA beim Betreten eines dunkleren Raumes, z. B. eines Ladenlokals, mit dem Anpassen an die schlechteren Lichtverhältnisse Probleme.
 

Eingeschränktes Gesichtsfeld

Sie sehen ihre Umgebung oft nur ausschnittweise und haben einen Tunnelblick. Um einzelne Bildfragmente einer Situation zu einem Gesamtbild zusammen setzen zu können, müssen sie ihren Kopf drehen, die Augen bewegen und so die ganze Umgebung abscannen. Marcel Dahinden schildert, dass er Gesichter von Menschen, die mit dem Rücken zum Fenster stehen, nur als Schatten wahrnimmt.
 

Lichtbedarf kontra Blendempflindlichkeit

Menschen mit dieser Augenerkrankung benötigen generell genügend Licht, um zum Beispiel noch etwas lesen zu können. Weil sie nur wenige Buchstaben auf einmal sehen, ist ihr Lesen meist verlangsamt. Und weil sie auf reflektierende Unterlagen reagieren, können sie Texte auf Hochglanzpapier und mit wenig Kontrast oft nur schwer oder überhaupt nicht lesen. Sie benötigen stärkere Kontraste. Wenn der Tunnelblick noch nicht zu ausgeprägt ist, können Kontraste mit einem Bildschirmlesegerät verbessert werden.

Interview

«Sich mit einer Sehbehinderung fortzubewegen erfordert Aufmerksamkeit, Konzentration und Wille.»

Marcel Studer ist Orientierungs- und Mobilitätslehrer bei der Sehbehindertenhilfe Basel. Klientinnen und Klienten dabei zu unterstützen, Wege sicher zurücklegen zu können, ist seine Berufung. Wir befragen ihn, wie er arbeitet und was Orientierung und Mobilität (O&M) ausmacht.

Marcel, seit wie vielen Jahren arbeitest Du als Mobilitätstrainer? Was gefällt Dir an dieser Arbeit besonders gut?
Ich bin durch Glück auf diese Tätigkeit gestossen und arbeite seit 21 Jahren in dieser Funktion. Mir gefällt es, draussen zu arbeiten. Zudem bin ich frei, wie ich die Termine mit meinen Klientinnen/Klienten einteile. Das Besondere an meiner Arbeit ist, dass ich Menschen befähigen kann, selbstständig zu werden. Wenn sich ein Klient über seine Fortschritte freut, dann ist das auch meine Freude.

Die visuelle Situation ist bei jedem Menschen anders. Wie informierst Du dich darüber, wieviel eine Klientin/ein Klient sieht?
Ich schaue mir vorher die medizinischen Unterlagen unserer Low Vision Fachfrauen an. Zu Beginn des Mobilitätstrainings frage ich die Klienten, wie sie selbst ihre visuelle Situation einschätzen. Am wichtigsten aber ist: Ich beobachte, wie sich die Klientin oder der Klient fortbewegt und vergleiche das mit dem Vorwissen, das ich habe. So realisiere ich rasch, wo die Herausforderungen liegen.

Sehbehinderte und Blinde sind oft mit ihrem weissen Langstock unterwegs. Wozu dient dieses Hilfsmittel?
Zu allererst ist der ‹weisse Stock› ein Verkehrsschutzzeichen. Dies wird augenfällig, wenn ein Sehbehinderter vor dem Überqueren der Strasse den Arm mit dem senkrecht gehaltenen Stock ausstreckt, innehält und hinhört, ob die Bahn frei ist. Mit der Schleiftechnik schützt sich der Betroffene davor, in Hindernisse zu laufen. Eine sehbehinderte oder blinde Person muss fähig sein, sich markante Punkte zu merken, z. B. eine Gehsteigabsenkung spüren, Belagswechsel erkennen (von Asphalt auf Kies) und Treppenkanten erfassen.

Unerlässlich sind ausserdem die akustischen Fähigkeiten. Die Öffnung einer Garage-Einfahrt erzeugt einen Hohlraum, was mit der pendelnden Stockspitze herausgehört werden kann. Ebenso ist es möglich, Häuserlücken zu hören, weil sich der Schall verändert.

«Es ging darum, ihm dieses Naturerlebnis möglich zu machen. Deshalb machten wir gemeinsam die Wasserfallen-Route.»

Ein visuelles Handicap in Orientierung und Mobilität auszugleichen ist also höchst komplex und eine anspruchsvolle Aufgabe?
Das ist so. Es erfordert den Tastsinn in den Füssen ebenso wie mit dem weissen Langstock. Der Gehörsinn ist wichtig und Betroffene müssen sich alle markanten Punkte und Richtungswechsel eines Weges merken können – in beide Richtungen. Dies ist eine hohe Kunst und erfordert Aufmerksamkeit, Konzentration und Wille.

Nehmen wir als Beispiel Marcel Dahinden. Wie hast du mit ihm gearbeitet?
Einige Wege kannte er schon aus seiner Zeit in Basel, andere hat er sich gemeinsam mit seiner Freundin erarbeitet. Ich erschloss dann mit ihm Wege in Quartieren, die ihm noch fremd waren.

Aus der Zusammenarbeit hat sich gezeigt, dass ihr beide ein gemeinsames Hobby habt: Biwakieren in der Natur. Da liegt es auf der Hand, dass Du ihm hilfst, ein Gebiet so gut kennen zu lernen, dass er sich dieses selbst erschliessen kann ...
Genau. Die Arbeit im Gelände ist an sich die gleiche wie in der Stadt. Ich zeigte Marcel Dahinden einen Ort, den ich selber schon kannte. Es ging darum, ihm dieses Naturerlebnis möglich zu machen. Deshalb machten wir gemeinsam die Wasserfallen-Route. Der Weg dorthin ist für ihn mit seinem Sehrest machbar. Und die Herausforderungen am Biwak-Platz sind zu meistern.
 

Fotos und Video: Michael Fritschi